Sterblich sein… was am Ende wirklich zählt

Sterblich sein – Was am Ende wirklich zählt. Über Würde, Autonomie und eine angemessene medizinische Versorgung

Der Titel bzw. Untertitel des Buches von Atul Gawande fasst treffend zusammen, was einem als Leser oder Leserin erwartet und ist ein Buch für alle Menschen, weil wir alle sterblich sind.

Atul Gawande erörtert als Facharzt für Chirurgie, was es in der heutigen Zeit heißt, alt zu werden, was – betrachtet man die ganze Menschheitsgeschichte – ein eher neues Phänomen darstellt. Die moderne Medizin hat sich als Aufgabe gesetzt, alles Mögliche zu tun, um Lebenszeit zu verlängern und – wenn auch nur kurzfristig – über den Tod zu triumphieren und ihn immer weiter hinauszuschieben.

„In den letzten Tagen unseres Lebens werden wir, um einer winzigen Hoffnung und Besserung willen, Behandlungen unterzogen, die unser Gehirn benebeln und unseren Körper auslaugen. Wir verbringen diese Tage in Krankenhäusern und Pflegeheimen und auf Intensivstationen, wo straff reglementierte anonyme Abläufe uns von allem abschneiden, was uns im Leben wichtig ist. Da wir uns der ehrlichen Untersuchung der Erfahrung von Altern und Sterben nicht stellen wollen, fügen wir Menschen noch mehr Leid zu. Wir verweigern Ihnen den grundlegenden Beistand, dessen sie am meisten bedürfen. Da wir kein stimmiges Bild davon haben, wie ein gutes Leben bis zum Ende aussehen könnte, haben wir zugelassen, dass unser Schicksal von den Sachzwängen der technischen Medizin und den Anweisungen Fremder bestimmt wird.“ (S. 22f.)

Häufig wird außer Acht gelassen, was für einen unheilbaren, leidenden Menschen am Ende wirklich wichtig ist: Lebensqualität und ein würdevoller Abgang im eigenen Zuhause im Beisein der nahestehenden Menschen. Auch meine Erfahrung im therapeutischen Alltag zeigt, dass sich die wenigsten Leute mit ihrer eigenen Endlichkeit beschäftigen (wollen). Die Begrenztheit des eigenen Seins wird gerne und gut verdrängt und oft erscheint es mir, wenn ich das Leben meiner Mitmenschen beobachte, dass sie dieses so anlegen und führen, als würden sie ewig leben.

Atul Gawande bricht eine Lanze für die geriatrische Medizin. Diese setzt sich mit der Ganzheit des menschlichen Seins und seiner Veränderung auseinander und verzichtet auf hochtechnische lebenserhaltende Apparate. Gespräche, Beobachtung und Unterstützung stehen im Vordergrund.

„Dieser schlichte und doch tiefgreifende Dienst, das Verständnis dafür, dass sich ein Sterbender alltägliche Annehmlichkeiten wünscht, dass er Gesellschaft braucht und Hilfe bei der Erreichung bescheidener Ziele – das ist es, was uns heute, über ein Jahrhundert später, so schrecklich fehlt.“ (Anmerkung: Der Autor bezieht sich auf Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch).

Palliativpflege versucht das Leiden von schwerkranken Menschen (dabei muss es sich nicht um Sterbende handeln) zu lindern. Der Autor zitiert eine großangelegte amerikanische Studie „Coping with Cancer“. Zwei Drittel der unheilbar kranken Krebspatienten berichten, kein Gespräch mit ihren behandelnden Ärzten darüber geführt zu haben, was sie sich am Ende ihres Lebens bezüglich Behandlung und Pflege wünschen. Die Studie zeigte, dass jene Patienten, die substantielle Gespräche geführt hatten, eher in Frieden und unter selbstbestimmten Rahmenbedingungen starben. Zudem fiele es den Angehörigen leichter, nach deren Tod weiterzuleben und ihr Depressionsrisiko war geringer.

In den prozesshaften Gesprächen werden allgemeine Fragen geklärt, wie sie in Patientenverfügungen vorkommen wie Widerbelebung nach Herzstillstand, Intubation, künstliche Beatmung, Antibiotikagabe oder künstliche Ernährung. Dann – und das ist der wesentliche Teil – geht es auch um den Umgang mit der überwältigenden Angst vor Tod und Leid. Dem Leidenden soll Zeit und Raum für seine Frage und sein Sprechen gegeben werden. Als passende Fragen nennt Gawande (S. 226):

„Was ist für Sie wichtig, wenn die Zeit knapp wird?“

„Wie verstehen Sie Ihre Prognose?“

„Was macht Ihnen Sorgen, wenn Sie an die Zukunft denken?“

„Worauf würden Sie am ehesten verzichten?“

„Wie wollen Sie Ihre Zeit verbringen, wenn Ihr Zustand sich verschlechtert?“

„Wer soll in Ihrem Namen entscheiden, wenn sie selber keine Entscheidungen mehr treffen können?“

Beizeiten diese Gespräche zu führen verlangt Mut und Tapferkeit von allen Beteiligten.

„Unsere Verantwortung in der Medizin besteht darin, Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Man stirbt nur einmal. Es gibt keine Erfahrungen, aus denen man schöpfen kann, die einen leiten können. Man braucht Ärzte, Schwestern, Pflegerinnen und Pfleger, die willens sind, die schweren Gespräche zu führen und zu sagen, was sie gesehen haben, die den Menschen dabei helfen, sich auf das Kommende vorzubereiten – und der herrschenden Besinnungslosigkeit zu entkommen, die nur wenige wirklich wollen.“ (S. 232)

Gawande meint weiters: „Die technologische Gesellschaft hat vergessen, was bewusstes Sterben ist und wie wichtig es für Menschen am Ende ihres Lebens sein kann, die Rolle des Sterbenden einzunehmen. Menschen am Ende ihres Lebens wollen Erinnerungen teilen, Weisheiten weitergeben, Beziehungen abschließen, Hinterlassenschaften regeln, Frieden schließen mit Gott und sicher sein, dass es ihren Hinterbliebenen gutgeht. Sie wollen ihre Geschichten so beenden, wie es ihnen entspricht. … Wir Mediziner zwingen Menschen immer wieder zu radikalen Brüchen am Ende ihres Lebens und sind blind für die Schäden, die wir damit anrichten.“ (S. 304)

Rattatatam, mein Herz – Vom Leben mit der Angst

Ein Roman von Franziska Seyboldt

Endlich. Eine Autorin schreibt namentlich über ihre eigene Geschichte mit der Angst. Sie nennt die Angst und sich beim Namen und schreibt ohne Pseudonym: Ein weiterer Beitrag zur Enttabuisierung von psychischen Störungen! Dankeschön!

Der Text am hinteren Cover macht neugierig. Sie schreibt: „An guten Tagen wache ich auf und bin eine Schildkröte. Dann spaziere ich bepanzert bis an die Zähne durch die Straßen, Tunnelblick an und los. An schlechten Tagen wache ich auf und bin ein Sieb. Geräusche, Gerüche, Farben plätschern durch mich hindurch wie Nudelwasser, ihre Stärke bleibt an mir kleben und hinterlässt einen Film, der auch unter der Dusche nicht abgeht. Ich taumle durch den Tag, immer auf der Suche nach etwas, woran ich mich festhalten kann.“

Die Autorin beschreibt ihr Leben mit der Angst. Diese wird von ihr oft buchstäblich personifiziert wahrgenommen. Sie ist ihre Begleiterin. Sie beschreibt ihre Versuche, sie loszuwerden, zu ignorieren, sich abzulenken. Auch Psychotherapie ist ein Thema. Ihr zweiter Anlauf beschert ihr einen für sie passenden Therapeuten – Dr. Goldberg. Hier eine kleine Kostprobe aus der Therapiestunde:

„Sie sind genau richtig so, wie Sie sind“, sagt Dr. Goldberg. „Aber das ist doch mal ein schöner Anlass, über Grenzen zu sprechen.“ Er schlägt die Beine übereinander und grinst.

Natürlich weiß Dr. Goldberg ganz genau, wo meine Schwachstellen sind, aber anstatt mit dem Finger in der Wunde rumzubohren, guckt er erst mal aus angemessener Entfernung drauf und wartet ab, bis ich selbst so weit bin, das Pflaster abzuspulen. Das rechne ich ihm hoch an. Außerdem mag er meine Metaphern.

Grenzen also. Ich muss an die Schildkrötentage denken, an denen ich einen natürlichen Abstand zum Rest der Welt habe, und daran, wie rar sie sind. Ich seufze.

„Im Grenzensetzen bin ich schlecht, fürchte ich.“

„Ach! Wie kommen Sie denn darauf?“

Wir wissen beide, dass er das ironisch meint.

„Zum Beispiel dieser Text, an dem ich zuletzt gearbeitet habe. Erst fand meine Redakteurin ihn ganz toll. Und plötzlich will sie ihn um die Hälfte kürzen und alle Witze rausstreichen. Das war so nicht abgemacht. Ich bin echt sauer.“

„Kann ich verstehen. Und, wie haben Sie reagiert?“

„Am liebsten hätte ich ihr direkt eine wütende Mail geschrieben.“

„Haben Sie aber nicht.“

„Nein.“

„Und warum nicht?“

„Solange ich das Gefühl habe, eine wütende Mail schreiben zu wollen, schreibe ich keine Mail.“

„Sie warten ab, bis der Ärger verraucht ist.“

„Genau.“

„Warum?“

„Weil ich Angst davor habe, dass ich überreagiere und etwas schreibe, das ich später bereue. Und ich will auf keinen Fall, dass meine Redakteurin sauer auf mich ist.“

„Aber Sie sind doch sauer auf sie!“

„Ja, aber das weiß sie ja bisher nicht.“

Das Verrückte ist, dass ich die rhetorischen Tricks von Dr. Goldberg erkenne und sie trotzdem wirken. Es ist, als würde ich ein Gespräch mit jemandem führen, der alles ganz klar und deutlich sieht und schon das Ziel vor Augen hat, während ich im Nebel herumeiere, und dann leitet er mich ganz behutsam an, wie ich da jetzt am besten rausfinde – weiter rechts, genau, und jetzt immer geradeaus. Ich bin Gretel im Gedankenwald, er ist Hänsel, der eine Spur aus kleinen weißen Steinen legt. Trotzdem fühlt es sich danach jedes Mal so an, als hätte ich den Weg ganz alleine gefunden.

„Ich fasse mal eben zusammen“, sagt Dr. Goldberg. „Sie sind sauer, wollen das aber nicht mitteilen, weil Sie Angst haben, dass Ihre Redakteurin dann sauer auf Sie ist.“

„Richtig.“

Das Lachen von Dr. Goldberg klingt eine Spur verzweifelt.

„Wie kommen Sie eigentlich darauf“, fragt er, „dass Ihre Redakteurin sauer reagieren könnte?“

„Na, ist doch klar. Sie will etwas, ich will etwas anderes. Bestimmt denkt sie, ich sei so eine zickige Autorin mit Allüren. Ich hatte sogar schon versucht ein Mail zu schreiben, bekam aber gleich beim ersten Satz Herzklopfen, weil ich mir vorgestellt habe, wie meine Redakteurin ihn liest. Wie sie aufgebracht ausatmet. Ich sehe das direkt vor mir.“

„Interessant. Ich wusste gar nicht, dass Sie hellsehen können.“

Ich scheitere an meinem Lächeln.

Dr. Goldberg überlegt.

„Verstehe ich das richtig“, sagt er, „anstatt darüber nachzudenken, wie Sie am besten Ihr Anliegen formulieren können, stellen Sie sich direkt vor, wie das bei Ihrem Gegenüber ankommt. Sie machen quasi zwei Schritte auf einmal.“

„Vermutlich.“ (S. 173 ff.)

Der Roman, der tagebuchartig in knappe Kapitel unterteilt ist, überfordert weder sprachlich noch vom Umfang her und auch Wenigleser dürfen – sofern das Thema interessiert – beherzt zum Buch greifen. Absolute Empfehlung! ***