Buchempfehlung: Patriarchale Belastungsstörung – Geschlecht, Klasse und Psyche

Die sehr geniale Beatrice Frasl stellt unserer Gesellschaft und Zeit eine Diagnose aus, wie sie (noch) nicht in der Klassifikation von Störungen (ICD-10) vorkommt, nämlich: die patriarchale Belastungsstörung.

Zum Einen erörtert sie die Schwierigkeiten, die Menschen aller Geschlechter betreffen, wenn sie psychisch erkranken. Für diese Menschen gibt es kaum Kassenplätze, weder für psychiatrische Fachärzt:innen noch für Psychotherapeut:innen und, falls dafür Kontingente vorgesehen sind, ist mit langen Wartezeiten zu rechnen. Psychotherapie ist für viele Menschen eine nicht finanzierbare Gesundheitsleistung. „Überdurchschnittlich betroffen sind dabei Frauen, denn strukturelle Faktoren sind mitunter ausschlaggebend, wenn es um psychische Krankheiten geht. Frausein im Patriarchat bedeutet Gefährdung auf vielen Ebenen: Prekäre Lebensumstände, körperliche und psychische Gewalt, die Doppelbelastung durch Arbeit und Care-Arbeit – all das wirkt sich auf die mentale Gesundheit von Frauen und den Zugang zu Hilfsangeboten aus.“

Sie beleuchtet die Ungleichheit auf vielen Ebenen: U. a. Wohlstand, (freie) Zeit, sinnstiftende Arbeit, Vereinzelung, Sicherheit, sowie Schönheits- und Schlankheitsdiktat und stellt eine Verbindung zwischen Patriarchat und psychischer Gesundheit her. Ich kann ihr nur zustimmen, wenn sie meint: „Es reicht nicht, psychische Gesundheit und Krankheit als ein Problem von Individuen zu sehen. Ein kurativer Zugang ist nicht genug, wir dürfen nicht nur erkrankte Individuen behandeln, wir müssen radikal die systemischen Bedingungen heilen, an denen sie erkranken.“

Dabei erwähnt sie die Schaffung einer besseren Versorgung durch generell kostenfreien Zugang zu Psychotherapie. Dazu müsste die Ausbildung für Psychotherapeut:innen an öffentlichen Universitäten zu regulären Studiengebühren angeboten werden. Mehr Akutpsychiatriebetten, mehr Versorgungsmöglichkeiten auch im ruralen Raum und eine Anlaufstelle, die alle Angebote vernetzt und vermittelt, denn für Menschen in der Krise ist das ein oft unüberwindbarer Hürdenlauf.

Umverteilung von Wohlstand und Arbeit wird als zweiter Meilenstein genannt. Weiters fordert sie Gesundheitskompetenz und Psychoedukation als Unterrichtsfach (hier setzt mein Traum vom Unterrichtsfach Beziehung an) und einen psychiatrischen Paradigmenwechsel. Sie beschreibt eine Abkehr vom medizinisch-biologischen Modell, weg von der breitflächigen Verschreibung von Psychopharmaka, hin zu einem ganzheitlichen Modell in Form von Psychotherapie, Therapiegruppen, Social Prescribing, Beschäftigung und Beziehung. Frasl weiß nur zu gut, wovon sie schreibt, ist sie doch selber vertraut mit einer depressiven Erkrankung.

Sie schließt mit folgenden Zeilen: „Wir sollten Menschen als Menschen behandeln, nicht als Summe von Diagnosen. Armut, Unterdrückung, soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalterfahrung, Traumatisierung sollten nicht als Problem im Kopf der Betroffenen pathologisiert werden. Die Individualisierung psychischer Erkrankung muss aufhören, systemische Probleme, die krank machen, müssen in den Fokus rücken. Systemwandel ist ein wesentlicher Bestandteil der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen. Es braucht einen umfassenden Umbau unserer Gesellschaft und des Gesundheitssystems. Fangen wir an.“

Ein besseres Leben ist möglich. Für uns alle!

Anmerkungen:

Social Prescribing: ein in Großbritannien von Health Professionals angewandtes Modell. Menschen werden sinnstiftende Tätigkeiten oder Gemeinschaft mit anderen – Freiwilligenarbeit, kreative Tätigkeiten, Lerngruppen, Sport etc. verschrieben. Mittlerweile gibt es dort über 100 Zentren, die Kontakte und Möglichkeiten für Menschen schaffen, anstatt sie mit einem Rezept nach Hause zu schicken. Das wär doch auch was für unser Land!

Empfehlung: Beatrice Frasl gestaltet einen sehr hörenswerten podcast. „Große Töchter“ heißt er. Link: https://grossetoechter.podbean.com/.