Rattatatam, mein Herz – Vom Leben mit der Angst

Ein Roman von Franziska Seyboldt

Endlich. Eine Autorin schreibt namentlich über ihre eigene Geschichte mit der Angst. Sie nennt die Angst und sich beim Namen und schreibt ohne Pseudonym: Ein weiterer Beitrag zur Enttabuisierung von psychischen Störungen! Dankeschön!

Der Text am hinteren Cover macht neugierig. Sie schreibt: „An guten Tagen wache ich auf und bin eine Schildkröte. Dann spaziere ich bepanzert bis an die Zähne durch die Straßen, Tunnelblick an und los. An schlechten Tagen wache ich auf und bin ein Sieb. Geräusche, Gerüche, Farben plätschern durch mich hindurch wie Nudelwasser, ihre Stärke bleibt an mir kleben und hinterlässt einen Film, der auch unter der Dusche nicht abgeht. Ich taumle durch den Tag, immer auf der Suche nach etwas, woran ich mich festhalten kann.“

Die Autorin beschreibt ihr Leben mit der Angst. Diese wird von ihr oft buchstäblich personifiziert wahrgenommen. Sie ist ihre Begleiterin. Sie beschreibt ihre Versuche, sie loszuwerden, zu ignorieren, sich abzulenken. Auch Psychotherapie ist ein Thema. Ihr zweiter Anlauf beschert ihr einen für sie passenden Therapeuten – Dr. Goldberg. Hier eine kleine Kostprobe aus der Therapiestunde:

„Sie sind genau richtig so, wie Sie sind“, sagt Dr. Goldberg. „Aber das ist doch mal ein schöner Anlass, über Grenzen zu sprechen.“ Er schlägt die Beine übereinander und grinst.

Natürlich weiß Dr. Goldberg ganz genau, wo meine Schwachstellen sind, aber anstatt mit dem Finger in der Wunde rumzubohren, guckt er erst mal aus angemessener Entfernung drauf und wartet ab, bis ich selbst so weit bin, das Pflaster abzuspulen. Das rechne ich ihm hoch an. Außerdem mag er meine Metaphern.

Grenzen also. Ich muss an die Schildkrötentage denken, an denen ich einen natürlichen Abstand zum Rest der Welt habe, und daran, wie rar sie sind. Ich seufze.

„Im Grenzensetzen bin ich schlecht, fürchte ich.“

„Ach! Wie kommen Sie denn darauf?“

Wir wissen beide, dass er das ironisch meint.

„Zum Beispiel dieser Text, an dem ich zuletzt gearbeitet habe. Erst fand meine Redakteurin ihn ganz toll. Und plötzlich will sie ihn um die Hälfte kürzen und alle Witze rausstreichen. Das war so nicht abgemacht. Ich bin echt sauer.“

„Kann ich verstehen. Und, wie haben Sie reagiert?“

„Am liebsten hätte ich ihr direkt eine wütende Mail geschrieben.“

„Haben Sie aber nicht.“

„Nein.“

„Und warum nicht?“

„Solange ich das Gefühl habe, eine wütende Mail schreiben zu wollen, schreibe ich keine Mail.“

„Sie warten ab, bis der Ärger verraucht ist.“

„Genau.“

„Warum?“

„Weil ich Angst davor habe, dass ich überreagiere und etwas schreibe, das ich später bereue. Und ich will auf keinen Fall, dass meine Redakteurin sauer auf mich ist.“

„Aber Sie sind doch sauer auf sie!“

„Ja, aber das weiß sie ja bisher nicht.“

Das Verrückte ist, dass ich die rhetorischen Tricks von Dr. Goldberg erkenne und sie trotzdem wirken. Es ist, als würde ich ein Gespräch mit jemandem führen, der alles ganz klar und deutlich sieht und schon das Ziel vor Augen hat, während ich im Nebel herumeiere, und dann leitet er mich ganz behutsam an, wie ich da jetzt am besten rausfinde – weiter rechts, genau, und jetzt immer geradeaus. Ich bin Gretel im Gedankenwald, er ist Hänsel, der eine Spur aus kleinen weißen Steinen legt. Trotzdem fühlt es sich danach jedes Mal so an, als hätte ich den Weg ganz alleine gefunden.

„Ich fasse mal eben zusammen“, sagt Dr. Goldberg. „Sie sind sauer, wollen das aber nicht mitteilen, weil Sie Angst haben, dass Ihre Redakteurin dann sauer auf Sie ist.“

„Richtig.“

Das Lachen von Dr. Goldberg klingt eine Spur verzweifelt.

„Wie kommen Sie eigentlich darauf“, fragt er, „dass Ihre Redakteurin sauer reagieren könnte?“

„Na, ist doch klar. Sie will etwas, ich will etwas anderes. Bestimmt denkt sie, ich sei so eine zickige Autorin mit Allüren. Ich hatte sogar schon versucht ein Mail zu schreiben, bekam aber gleich beim ersten Satz Herzklopfen, weil ich mir vorgestellt habe, wie meine Redakteurin ihn liest. Wie sie aufgebracht ausatmet. Ich sehe das direkt vor mir.“

„Interessant. Ich wusste gar nicht, dass Sie hellsehen können.“

Ich scheitere an meinem Lächeln.

Dr. Goldberg überlegt.

„Verstehe ich das richtig“, sagt er, „anstatt darüber nachzudenken, wie Sie am besten Ihr Anliegen formulieren können, stellen Sie sich direkt vor, wie das bei Ihrem Gegenüber ankommt. Sie machen quasi zwei Schritte auf einmal.“

„Vermutlich.“ (S. 173 ff.)

Der Roman, der tagebuchartig in knappe Kapitel unterteilt ist, überfordert weder sprachlich noch vom Umfang her und auch Wenigleser dürfen – sofern das Thema interessiert – beherzt zum Buch greifen. Absolute Empfehlung! ***

ErLESENes: Bibliotherapie oder die Heilkraft der Sprache.

In meinem Blog stelle ich gerne Belletristik und Sachbücher vor, die ich als bereichernd, nützlich und hilfreich für Interessierte einschätze.

Bildergebnis für bücher

Warum?

Erstens: Ich glaube, dass Geschichten, Erzählungen und Narrative eine wirksame Kraft besitzen. Das Lesen einer Geschichte erweitert den Horizont und lässt uns eine andere Perspektive einnehmen. In eine Erzählung einzutauchen, schafft unweigerlich Abstand vom Eigenen Sein. Wir finden uns wieder oder entdecken Ungeahntes und Neues. Das ist letztlich auch, was in der Psychotherapie angestrebt wird. Eine andere Perspektive relativiert und schafft neuen Handlungsspielraum. Das Abstandnehmen erlaubt, die eigene Geschichte neu und anders zu erzählen. Das geschieht, wenn Autoren und Autorinnen Bücher schreiben, aber auch wenn meine Klienten und Klientinnen ihre Biografie und Erlebtes erzählen. Eine große Chance für Veränderung und ein lebenswerteres Jetzt entsteht!

Zweitens: Geschichten lesen fördert Sprache. Ich mache die Erfahrung, dass je mehr sprachliche Fertigkeit ein Mensch besitzt, umso leichter gelingt es, Unfassbares und Tragisches zu verarbeiten. Er oder sie kann Erlebtes und Erfülltes so besser benennen, einordnen und letztendlich in das gelebte Leben integrieren.

Drittens: Bücher können Freunde sein, wenn keine anderen da sind. Das geschieht häufig bei Kindern, die in großer Einsamkeit aufwachsen, etwa, weil sie eine Außenseiterposition einnehmen oder einfach nicht das Glück haben, den passenden Anschluss zu finden. Bücher können, ähnlich wie Tiere oder die Natur, Menschen retten und über Phasen der Einsamkeit hinwegtrösten.