In den letzten Monaten scheinen sich in meiner psychotherapeutischen Praxis die Anfragen von Frauen, die an großer Erschöpfung, Überlastungssyndrome, Schlafstörungen oder Depression leiden, zu häufen. Im besten Fall interpretiere ich dieses Aufkommen als Phänomen, welches aussagt, dass Frauen gut auf sich achten, ihre Beschwerden ernst nehmen und sich Hilfe organisieren und gönnen.
Dennoch kommt bei mir ein ungutes Gefühl hoch. Ich kann mich nicht gegen den Eindruck erwehren, dass es sich hierbei nicht ausschließlich um ein individuelles Problem handelt, dass sich als ebensolches demnach auch nicht individuell lösen lässt. Spätestens die Pandemie mit den vermehrten Anforderungen an Eltern durch homeschooling und anderen, oft zusätzlichen Pflege- und Betreuungsaufgaben hat vor allem den Müttern viel abverlangt, da sie den größeren Brocken an unbezahlter Sorgearbeit (Stichwort: care-Arbeit), mentaler und emotionaler Belastung stemmen. Frauen steht die berufliche Welt vermeintlich so offen, wie nie zuvor. Dennoch arbeiten sie häufig – nicht zuletzt wegen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – in weniger angesehenen und schlechter bezahlten (Teilzeit)jobs.
Die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach hat ein Buch veröffentlicht, das dieses von mir beobachtete Phänomen – nämlich erschöpfte weibliche Frauen (in meinem Fall Klientinnen) – beschreibt. Die Kernaussage ihres Buches „Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit“ lautet, dass von Frauen verlangt wird, permanent verfügbar zu sein: familiär, beruflich, sexuell und gesellschaftlich. Gleichzeitig wird ein Großteil der unbezahlten Pflege- und Sorgearbeit weltweit von Frauen verrichtet. Schutzbach analysiert ein System, das wie sie meint, „von Frauen alles erwartet, aber nichts zurückgibt.“ Die Lösung würde demnach nicht an der individuellen Verbesserung z. B. der Work-Life-Balance, besseres Zeitmanagement, individuelle Optimierung etc. liegen, sondern im Widerstand und der Auflehnung gegen das System.
Ich frage mich, ob ich als Psychotherapeutin in der Beratung oder Therapie unpolitisch bleiben kann, soll oder muss. Geht das überhaupt?
Wenn ich dann von einer jungen Mutter (selber Kindergartenpädagogin) erzählt bekomme, dass sich die weiblichen Angestellten in der Bildungseinrichtung Krabbelstube oder Kindergarten wundern, wenn Mütter ihre Kinder mehr Stunden zur Betreuung anmelden, als ihre Erwerbsarbeit dauert, muss ich mich wundern.
Es kann entlastend sein durchzudenken, dass diese weibliche Erschöpfung nicht nur hausgemacht ist. Nicht alles hat mit der eigenen Lebensgestaltung zu tun. Manche Probleme sind von einer Einzelnen, einem Einzelnen nicht zu lösen. Die Soziologin Frau Schutzbach meint in der Ö1 Sendung „Im Gespräch“ vom 10. März 2022 dass es hilfreich sein kann, die Wut, die aus der Erschöpfung resultiert, zuzulassen. Diese kann eine Kraftquelle für Veränderung sein – eine visionäre Wut wohlgemerkt, nicht eine die in Hass umschlägt. Mütter in Amerika haben sich zum „primal mum scream“ getroffen. Ein gemeinsames Schreien gegen den Pandemiefrust mit einer starken feministischen Botschaft, die darauf hinweist, dass es nicht fair ist, den Frauen die familiäre Mehrarbeit der Pandemie schultern zu lassen. Der Standard hat am 7. Februar 2022 von dieser kreativen Aktion berichtet.
In mir entsteht eine große Sehnsucht, dass wir Frauen doch solidarischer sein sollten, kritischer und mehr aufbegehren in dieser Welt, die für Männer einfach bequemer ist. – Und, im Umkehrschluss, dass Männer erkennen, wie ungerecht Sorgearbeit, Vermögen, Macht, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verteilt sind und ihren Teil beitragen, dass sich aus der weiblichen Erschöpfung eine angenehme Müdigkeit für alle Menschen ergibt.
Es läutet. Der nächste erschöpfte Mensch steht vor der Tür.