Buchempfehlung: Patriarchale Belastungsstörung – Geschlecht, Klasse und Psyche

Die sehr geniale Beatrice Frasl stellt unserer Gesellschaft und Zeit eine Diagnose aus, wie sie (noch) nicht in der Klassifikation von Störungen (ICD-10) vorkommt, nämlich: die patriarchale Belastungsstörung.

Zum Einen erörtert sie die Schwierigkeiten, die Menschen aller Geschlechter betreffen, wenn sie psychisch erkranken. Für diese Menschen gibt es kaum Kassenplätze, weder für psychiatrische Fachärzt:innen noch für Psychotherapeut:innen und, falls dafür Kontingente vorgesehen sind, ist mit langen Wartezeiten zu rechnen. Psychotherapie ist für viele Menschen eine nicht finanzierbare Gesundheitsleistung. „Überdurchschnittlich betroffen sind dabei Frauen, denn strukturelle Faktoren sind mitunter ausschlaggebend, wenn es um psychische Krankheiten geht. Frausein im Patriarchat bedeutet Gefährdung auf vielen Ebenen: Prekäre Lebensumstände, körperliche und psychische Gewalt, die Doppelbelastung durch Arbeit und Care-Arbeit – all das wirkt sich auf die mentale Gesundheit von Frauen und den Zugang zu Hilfsangeboten aus.“

Sie beleuchtet die Ungleichheit auf vielen Ebenen: U. a. Wohlstand, (freie) Zeit, sinnstiftende Arbeit, Vereinzelung, Sicherheit, sowie Schönheits- und Schlankheitsdiktat und stellt eine Verbindung zwischen Patriarchat und psychischer Gesundheit her. Ich kann ihr nur zustimmen, wenn sie meint: „Es reicht nicht, psychische Gesundheit und Krankheit als ein Problem von Individuen zu sehen. Ein kurativer Zugang ist nicht genug, wir dürfen nicht nur erkrankte Individuen behandeln, wir müssen radikal die systemischen Bedingungen heilen, an denen sie erkranken.“

Dabei erwähnt sie die Schaffung einer besseren Versorgung durch generell kostenfreien Zugang zu Psychotherapie. Dazu müsste die Ausbildung für Psychotherapeut:innen an öffentlichen Universitäten zu regulären Studiengebühren angeboten werden. Mehr Akutpsychiatriebetten, mehr Versorgungsmöglichkeiten auch im ruralen Raum und eine Anlaufstelle, die alle Angebote vernetzt und vermittelt, denn für Menschen in der Krise ist das ein oft unüberwindbarer Hürdenlauf.

Umverteilung von Wohlstand und Arbeit wird als zweiter Meilenstein genannt. Weiters fordert sie Gesundheitskompetenz und Psychoedukation als Unterrichtsfach (hier setzt mein Traum vom Unterrichtsfach Beziehung an) und einen psychiatrischen Paradigmenwechsel. Sie beschreibt eine Abkehr vom medizinisch-biologischen Modell, weg von der breitflächigen Verschreibung von Psychopharmaka, hin zu einem ganzheitlichen Modell in Form von Psychotherapie, Therapiegruppen, Social Prescribing, Beschäftigung und Beziehung. Frasl weiß nur zu gut, wovon sie schreibt, ist sie doch selber vertraut mit einer depressiven Erkrankung.

Sie schließt mit folgenden Zeilen: „Wir sollten Menschen als Menschen behandeln, nicht als Summe von Diagnosen. Armut, Unterdrückung, soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalterfahrung, Traumatisierung sollten nicht als Problem im Kopf der Betroffenen pathologisiert werden. Die Individualisierung psychischer Erkrankung muss aufhören, systemische Probleme, die krank machen, müssen in den Fokus rücken. Systemwandel ist ein wesentlicher Bestandteil der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen. Es braucht einen umfassenden Umbau unserer Gesellschaft und des Gesundheitssystems. Fangen wir an.“

Ein besseres Leben ist möglich. Für uns alle!

Anmerkungen:

Social Prescribing: ein in Großbritannien von Health Professionals angewandtes Modell. Menschen werden sinnstiftende Tätigkeiten oder Gemeinschaft mit anderen – Freiwilligenarbeit, kreative Tätigkeiten, Lerngruppen, Sport etc. verschrieben. Mittlerweile gibt es dort über 100 Zentren, die Kontakte und Möglichkeiten für Menschen schaffen, anstatt sie mit einem Rezept nach Hause zu schicken. Das wär doch auch was für unser Land!

Empfehlung: Beatrice Frasl gestaltet einen sehr hörenswerten podcast. „Große Töchter“ heißt er. Link: https://grossetoechter.podbean.com/.

Geduld als stets vorhandene Alternative in einer ruhelosen Welt

In der therapeutischen Arbeit geht es unter anderem um die Aktivierung von Ressourcen. Eine Ressource ist etwas, das Menschen unterstützt, die Herausforderungen die das Leben stellt, zu meistern. Das können Menschen sein, Tiere, Beschäftigungen, Talente, die Natur etc. Eben alles, was dazu beiträgt, dass die Hürden des Lebens überwindbarer werden.

Ich beziehe mich auf Bettina Siebert-Blaesing, die in der Zeitschrift Familiendynamik (47, 276-283) Geduld als Ressource und als Tool zur Gesundheitsförderung in Zeiten von Krise und Selbstoptimierung beforscht und beschrieben hat.

Alles schön und gut, aber wie kommen wir und vor allem junge Menschen zu Geduld?

Förderliche Lernbedingungen für diese Ressource ist das „Lernen am Modell“ (von Bandura), also das Abschauen von Verhalten der relevanten Bezugspersonen. Wieder ist es scheinbar das mütterliche Ruheverhalten, das besonders dazu beiträgt. (Wahrscheinlich wäre das väterliche, ruhige Verhalten genauso tauglich, aber in den meisten Welten, sind es die Mütter, die das Hauptrollenmodell für ihre Kinder abgeben). Geduld ist das Warten auf Erwünschtes und das Aushalten und Verzichten darauf. Stichwort Frustrationstoleranz. Diese können Kinder von klein auf schulen, indem ihnen genau das zugemutet wird. In einer Welt, in der Konsumwünsche fast jederzeit erfüllt werden können, oder mit Hilfe von Google jede Frage sekundenschnell beantwortet werden kann, blitzschnelle whats app Kommunikation tagelangen Postweg ersetzt, um nur einige Beispiele zu nennen, ist genau das für unsere jungen Leute gar nicht so leicht.

Gesellschaftsspiele sind eine perfekte Übung. Kinder lernen zu warten bis sie drankommen und auch zu verlieren. Weiters werden empathische und motivierende Lernbegleiter, die eine wertschätzende und geduldige Lernkultur prägen, als geduldfördernd genannt. Statt Bildungs- und Erfolgsdruck braucht es Muße und Ritualisierung. Erfolgsdruck behindert das Erlernen von Geduld sowie leider auch anderer Softskills wie Empathie, Konfliktbereitschaft und Kreativität. Der Selbstoptimierungswahn (powered by social media) gefährdet die sorgsame Reifung der Persönlichkeit junger Menschen. Früh, selbstbestimmt und in Ruhe eigene Entscheidungen treffen zu dürfen ist nicht nur die beste burn-out Prophylaxe, sondern pusht auch die Geduld.

Eine Verwandte der Geduld, die Achtsamkeit (die Fokussierung auf das Hier und Jetzt, also das gegenwärtige Erleben) ist ebenso eine wesentliche Lebensressource. Geduld aber meint das Durchhalten in einem längeren Prozess. Oft wird Geduld als Lebensressource erst in einer krisenhaften Phase gelernt. Impulse aus der Hirnforschung, systemischer und burn-out Forschung, Reflexionen zu Spiritualität und Mystik, sowie zur Achtsamkeit legen nahe, dass junge Menschen sich vor allem dann in Geduld schulen, wenn sie im Leben mit Krisen konfrontiert werden und ihnen das Durchstehen dieser zugemutet wird.

Erfahrungen des Gelingens, des Erfolgs und Geliebt-Werdens auch Scheitern, Ausgrenzung, Nicht-Gemocht-Werden, Demütigung, Überforderung, Krankheit, Einsamkeit, Armut, Sterben, Unsicherheit und Hilflosigkeit und kleinere Frustrationen können helfen, die wichtige Lebens- und Entwicklungsressource Geduld zu lernen, sofern wohlwollende Begleiter:innen den jungen Menschen geduldig begegnen. Für die Therapie mit Heranwachsenden lässt sich aus der Studie ableiten, dass ein kurzfristiges Training weniger bewirkt als eine dialogische Begegnungssituation. Die letztere, wie es etwas eine Therapiesitzung schafft, dient als nachhaltige Lernerfahrung.

Unsere derzeitig sehr krisenhaft scheinende Zeit schreit eigentlich nach einem Mehr an Geduld, um der Ohnmacht, der Wut und der Angst her zu werden, die uns alle bedroht.

Gefühle wie Ruhe, Gelassenheit und innerer Frieden entstehen, wenn Geduld erlebt und gelebt wird.

Podcasts zur Unterstützung und Veränderung in Paarbeziehungen und in der Beziehung zu mir selbst

Hier möchte ich einige Podcasts teilen, die persönliches Wachstum unterstützen und psychoedukative Funktion haben.

So ganz nach dem Motto: „Es muss nicht immer Therapie sein.“

Ist das normal? (Zeit online):

Inhaltlich werden alle Themen rund um Beziehung, Verbindung, Erotik, Zärtlichkeit und Sexualität besprochen. Sehr empfehlen kann ich die Folgen: „Wenn sich Paare wieder in den Arm nehmen, dann tut sich was“ und „Sex muss kein Ziel haben, schon gar nicht den Orgasmus“.

In der ersten geht es darum dass es wichtig ist, das Vergnügen vor die Arbeit – auch die Beziehungsarbeit zu stellen. Noch immer gibt es kein Schulfach, dass Beziehung führen lernt. Richtungsweisende Vorbilder in punkto Partnerschaft, z. B. durch Eltern fehlen häufig. In dieser podcast Folge hört man, was man sofort für mehr Beziehungsglück tun kann und dass es auch Sinn macht, alleine mit Veränderungen zu starten, wenn der Partner noch nichts verändern will. So viel sei verraten: Wenn sich Paare wieder in den Arm nehmen, dann tut sich was (eine Minute aufwärts, sanft, liebevoll, zugewandt, täglich mehrmals …. das ist ein Anfang)!

Die Intimitätscoachin Yella Cremer spricht in der zweiten Folge über Slow Sex. Dieser ist ergebnisoffen, hat keine Vorbedingungen und ist absichtslos. Es gibt viele Arten von gutem Sex. Slow Sex ist eine davon. Er entspannt, schafft eine Nähe und Verbindung, die weit über Lust und Erregung hinausgeht und kann tagelang nachwirken. Auch für Paare, die schon lange keinen Sex mehr hatten, oder körperliche Schwierigkeiten dabei haben, sei Slow Sex eine Spielart, die den Druck rausnimmt. Die Expertin meint, Sex sei eine Kulturleistung, die sich lernen lässt. Ein guter Liebhaber oder eine gute Liebhaberin für das Gegenüber werden zu wollen, schließt lernen und ausprobieren mit ein. Warum nicht zum Sex verabreden, Räume dafür schaffen, oder Intimität intensiver in die Lebensplanung einbeziehen, wie ein geliebtes Hobby, wofür man auch Zeit reservieren muss und lernen unabdingbar ist?!

Paula: Lieben Lernen

Alles rund um Beziehungen. Paula spricht mit ihren Gästen und Gästinnen über ihre Erfahrungen in Beziehungen und versucht Lösungen zu finden, wie man mit konkreten Situationen umgehen kann.

Dear Therapists with Lori Gottlieb and Guy Winch:

Dieser podcast ist in englischer Sprache. Die TherapeutInnen Lauri Gottlieb und Guy Winch versuchen Therapiesitzungen für alle zu öffnen und vertrauen darauf, dass jede und jeder der zuhört, auch davon profitiert. Finde ich übrigens auch!

Und noch ein fantastischer englischer podcast: Ask Kati Anything! Die Familientherapeutin Kati Morton gibt Antworten zu allen (wirklich allen!) Fragen der mentalen Gesundheit. Sie ist einfach großartig!

Darf Psychotherapie politisch sein?

In den letzten Monaten scheinen sich in meiner psychotherapeutischen Praxis die Anfragen von Frauen, die an großer Erschöpfung, Überlastungssyndrome, Schlafstörungen oder Depression leiden, zu häufen. Im besten Fall interpretiere ich dieses Aufkommen als Phänomen, welches aussagt, dass Frauen gut auf sich achten, ihre Beschwerden ernst nehmen und sich Hilfe organisieren und gönnen.

Dennoch kommt bei mir ein ungutes Gefühl hoch. Ich kann mich nicht gegen den Eindruck erwehren, dass es sich hierbei nicht ausschließlich um ein individuelles Problem handelt, dass sich als ebensolches demnach auch nicht individuell lösen lässt. Spätestens die Pandemie mit den vermehrten Anforderungen an Eltern durch homeschooling und anderen, oft zusätzlichen Pflege- und Betreuungsaufgaben hat vor allem den Müttern viel abverlangt, da sie den größeren Brocken an unbezahlter Sorgearbeit (Stichwort: care-Arbeit), mentaler und emotionaler Belastung stemmen. Frauen steht die berufliche Welt vermeintlich so offen, wie nie zuvor. Dennoch arbeiten sie häufig – nicht zuletzt wegen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – in weniger angesehenen und schlechter bezahlten (Teilzeit)jobs.

Die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach hat ein Buch veröffentlicht, das dieses von mir beobachtete Phänomen – nämlich erschöpfte weibliche Frauen (in meinem Fall Klientinnen) – beschreibt. Die Kernaussage ihres Buches „Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit“ lautet, dass von Frauen verlangt wird, permanent verfügbar zu sein: familiär, beruflich, sexuell und gesellschaftlich. Gleichzeitig wird ein Großteil der unbezahlten Pflege- und Sorgearbeit weltweit von Frauen verrichtet. Schutzbach analysiert ein System, das wie sie meint, „von Frauen alles erwartet, aber nichts zurückgibt.“ Die Lösung würde demnach nicht an der individuellen Verbesserung z. B. der Work-Life-Balance, besseres Zeitmanagement, individuelle Optimierung etc. liegen, sondern im Widerstand und der Auflehnung gegen das System.

Ich frage mich, ob ich als Psychotherapeutin in der Beratung oder Therapie unpolitisch bleiben kann, soll oder muss. Geht das überhaupt?

Wenn ich dann von einer jungen Mutter (selber Kindergartenpädagogin) erzählt bekomme, dass sich die weiblichen Angestellten in der Bildungseinrichtung Krabbelstube oder Kindergarten wundern, wenn Mütter ihre Kinder mehr Stunden zur Betreuung anmelden, als ihre Erwerbsarbeit dauert, muss ich mich wundern.

Es kann entlastend sein durchzudenken, dass diese weibliche Erschöpfung nicht nur hausgemacht ist. Nicht alles hat mit der eigenen Lebensgestaltung zu tun. Manche Probleme sind von einer Einzelnen, einem Einzelnen nicht zu lösen. Die Soziologin Frau Schutzbach meint in der Ö1 Sendung „Im Gespräch“ vom 10. März 2022 dass es hilfreich sein kann, die Wut, die aus der Erschöpfung resultiert, zuzulassen. Diese kann eine Kraftquelle für Veränderung sein – eine visionäre Wut wohlgemerkt, nicht eine die in Hass umschlägt. Mütter in Amerika haben sich zum „primal mum scream“ getroffen. Ein gemeinsames Schreien gegen den Pandemiefrust mit einer starken feministischen Botschaft, die darauf hinweist, dass es nicht fair ist, den Frauen die familiäre Mehrarbeit der Pandemie schultern zu lassen. Der Standard hat am 7. Februar 2022 von dieser kreativen Aktion berichtet.

In mir entsteht eine große Sehnsucht, dass wir Frauen doch solidarischer sein sollten, kritischer und mehr aufbegehren in dieser Welt, die für Männer einfach bequemer ist. – Und, im Umkehrschluss, dass Männer erkennen, wie ungerecht Sorgearbeit, Vermögen, Macht, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verteilt sind und ihren Teil beitragen, dass sich aus der weiblichen Erschöpfung eine angenehme Müdigkeit für alle Menschen ergibt.

Es läutet. Der nächste erschöpfte Mensch steht vor der Tür.

Neu im Team!

Seit Oktober 2021 begleitet mich Little Amy fallweise zu den Therapiestunden. Unsere Golden Retriever Welpe ist noch jung und (manchmal) ungestüm. Sie ist sehr motiviert und lernwillig und vielleicht auf dem Sprung, Teil eines wunderbaren Mensch-Hunde-Teams zu werden und mich in Zukunft als Therapiehündin zu unterstützen. Einstweilen darf sie noch Hundekind sein und ab und an Praxisluft schnuppern.

Falls Sie sich für mich als Ihre Therapeutin interessieren, sollten Sie wissen, dass es Amy gibt. Wenn Sie ein Hund irritiert, geben Sie mir bitte bei der Vereinbarung des Erstgespräches Bescheid.

Aufgeweckt … mit 12 Wochen
Hundemüde Amy mit 4,5 Monaten …

Lesen …

… ist eine Möglichkeit den veränderten Lebensbedingungen zu begegnen, eine Gegenwelt zu kreieren und der Monotonie des Alltags zu entfliehen. Den Kopf zwischen zwei Buchseiten zu vergraben kann als Mittel der Entschleunigung, als Chance abzuschalten, sowie als seelisches Heilmittel gesehen werden (Lesen als Medizin, Bibliotherapie)! Tauchen Sie ein in die Lebenswelt der ProtagonistInnen, sehen Sie die Welt mit deren Augen, staunen Sie, was alles möglich ist, wie innere Monologe anderer ablaufen. Lassen Sie sich inspirieren. Der seelischen Gesundheit wird es keinesfalls schaden, so viel darf gesagt werden.

Aber, und hier hält Sascha Michel in seinem Essay: Die Unruhe der Bücher – Vom Lesen und was es mit uns macht – entgegen, dass es eben das auch gerade das oben erwähnte nicht immer ist. Es sei ein Herd der Unruhe und Kontingenz. Er meint was wir kultivieren sollten, ist ein aufregendes, ein chaotisches, ein lebendiges Lesen.

„Das richtige Lesen ist manchmal ein Tanz, manchmal ein Spiel, manchmal ein Spaziergang, manchmal ein ernstes Wort von Mensch zu Mensch, manchmal eine Expedition, manchmal aber auch ein Kampf.“ (D. Knipphals in Michel)

Das Gefährliche am Lesen ist ja, dass möglicherweise Sehnsüchte geweckt werden, die sich im richtigen Leben nicht stillen lassen. Hier muss man sich entscheiden, ob man das möchte, z. B. in ferne Länder reisen – nach Japan und dann doch wieder nicht tatsächlich dort zu sein. Aber ehrlich – auch im richtigen Leben führen ja die wenigsten Fernreisen bei den Reisenden zu mehr Offenheit und Selbstbefragung, oder?

Unser Erfahrungsraum wird durch das Lesen immer länger und länger und das kann ja besonders im Moment gut tun. So meint Ilja Trojanow in seinem Buch Der Weltensammler:

„Ich lese, um überrascht zu werden, um konfrontiert zu werden, um herausgefordert zu werden, um geschockt zu werden. Ich lese lieber meine Feinde als meine Freunde. Lieber verstehe ich nichts, als alles. Statt bestimmte Farben der Palette und Töne der Skala zu ignorieren, sollten wir die existierende Vielfalt wahrnehmen. Wenn Sie in einer Buchhandlung spontan denken: „Davon habe ich noch nie etwas gehört,“ – greifen Sie zu!“

Ich kann nur sagen, lassen Sie sich überraschen und schockieren. Eine der besten Anti-Pandemie Arzneien, die derzeit erhältlich ist. Greifen Sie zum Buch.

Die Leere im Kopf, die Einsamkeit und die Einschränkungen.

Das Virus richtet viel aus und an derzeit. Eine wirklich schlimme Sache ist die vermehrt spürbare Einsamkeit. Diese wirkt bei jenen Menschen schlimmer, die vor dem lockdown viele Sozialkontakte gepflegt haben und sich ein buntes Leben gestaltet haben. Wie also damit umgehen? Ich würde sagen, bleiben wir miteinander in Kontakt, das ist doch schon mal was. Hören wir nicht auf, einander anzulächeln – auch mit der Maske geht das irgendwie, mit den Augen, einem freundlichen Nicken, einem hallo, mit Winken. Das macht das Ausweichen und das Vorbeihuschen ein bisschen wett, denn das wirkt distanzierend und – no na, ist es ja auch.

Was noch?

  • ein Telefondate/Videodate (dafür könnte man sich sogar fein herausputzen, wie für ein reales Ausgehen) mit einem lieben Menschen
  • jemanden anrufen, den man lange nicht gehört hat
  • wieder mal einen Brief schreiben, ein langes e-mail, etwas von sich erzählen
  • über die Situation reden, statt cool bleiben, he wie geht’s euch damit, dir, dir als Mama, Papa, dir als junger, alter, als Single, als Partner?
  • von einer besseren Zeit träumen … einen Ausflug für den Frühling planen, ein Picknick mit der ganzen Familie, den nächsten realen Buchklub, einen Restaurantbesuch, einen Wanderausflug …

Und was geht noch?

  • den täglichen Spaziergang mit einer Portion Achtsamkeit würzen: was sehe ich an Farben, was höre ich für Geräusche, wie spürt sich der gefrorene Boden an, was tut die kalte Luft in meiner Nase?
  • eine neue Spazierrunde auskundschaften
  • Mal schneller oder viel langsamer als sonst gehen
  • Und dann könnte man noch den Weihnachtsputz erledigen, sich von Überflüssigem Zeugs trennen (nach Marie Kondos Motto „does it sparkle joy“? – Sonst weg damit) real und virtuell (überflüssige Daten von den Geräten löschen).
  • vegetarisch kochen
  • mal das Handy ausschalten. Geht das überhaupt noch?
  • Tagebuch schreiben: Was ist toll an mir? 5 Sachen aufschreiben! Wofür bin ich dankbar? Aufschreiben! Ein schönes Erlebnis im letzten Jahr? Aufschreiben! Ein wunderbarer Augenblick mit meinem Kind? Aufschreiben! Ein geheimer Traum? Aufschreiben! Ein prägendes Kindheitserlebnis? Aufschreiben! Mein learning aus dieser Krise? Aufschreiben! Der Stift sänftigt die Einsamkeit auch ein klein wenig! Versprochen!
All you need is love … love is all you need!

„Für mich soll es Neurosen regnen“, oder: … „einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen!“

30.10.2019 – Buchpremiere mit Peter Wittkamp

Der Autor Peter Wittkamp, selbst Betroffener von Zwangsstörungen (Grübelzwang, Zwangshandlungen, magisches Denken), erzählt sehr offen über sein Leben mit den Zwängen, seinem Umgang mit denselbigen und was ihm geholfen hat. Ich verrate es gleich vorweg – und es ist einfach zu merken, weil ein Werbespruch eines großen göttlichen Sportkonzerns so ähnlich geht: „Just don’t do it!“

Als ob es so einfach wäre, nicht mehr den Herd zu kontrollieren, ob er denn ja abgedreht ist, oder das übertriebene Händewaschen einfach sein zu lassen. Das Buch ist erfrischend, mal witzig (der Autor verdient sein Leben u. a. mit Gag-Schreiben für’s deutsche Fernsehen), mal tragisch-traurig und auf alle Fälle aufschlussreich für alle Beteiligten: Betroffene von Zwangsstörungen oder OCD – wie es im Englischen heißt (obsessive compulsive disorder) – und deren Mitmenschen.

Falls Sie nicht gerne lesen – tun Sie sich keinen Zwang an (schlechter Scherz) und beginnen Sie doch auf S. 286 am Ende des Buches. Wittkamp gibt 10 geniale OCD Life Hacks, die da sind:

  1. Sprechen Sie laut aus, was der Zwang von Ihnen will. Es hilft, zu erkennen, wie sinnlos und übertrieben der Zwang ist. z. b. Ich kann erst Feierabend machen, wenn ich die Haustür fünf Mal und den Herd sieben Mal kontrolliert habe. Dabei darf ich nicht an den Tod oder etwas Trauriges denken, sonst beginnt der Kontrollgang von vorne. – Denn, wie der Autor schreibt: „Im Kopf führen diese Gedanken relativ ungestört ein Eigenleben. Genau das sollte man unterbinden. „Der Gedanke muss an die frische Luft“, würde Hape Kerkeling sagen.“ (S. 287)
  2. Sprechen Sie den kompletten Zwang mit allen Befürchtungen aus. z. B. Der Zwang möchte, dass ich die Kleidung nicht anziehe, die ich beim letzten Besuch in der Ambulanz anhatte. Der Arzt war nämlich dunkelhäutig. Möglicherweise hat er mich mit HIV infiziert. Diese Krankheit kommt ja aus Afrika. So könnte es tatsächlich sein. Verrückt, was der Zwang Ihnen so alles einredet!
  3. Machen Sie ruhig auch mal Scherze über Ihren Zwang. Auch das kann helfen, den Zwängen ein bisschen die Kraft zu nehmen.
  4. Erinnern Sie sich daran, wie oft nichts passiert ist. Der Zwang ist eine Drama Queen, die man keinesfalls immer ernst nehmen soll.
  5. Zählen Sie mit. Notieren Sie (z. b. am Handy), wie oft pro Tag Sie Ihren Zwängen nachgeben. So lässt sich statistisch gut beobachten, wie es um die eigene Psyche steht.
  6. Verschieben Sie den Zwang: Merken Sie, dass Sie gerne Ihrem Zwang nachgeben würden, verschieben Sie ihn für 10 Minuten, eine Stunde, morgen, das soll bei leichten Zwängen möglich sein.
  7. Packen Sie den Zwang bei der Wurzel: Statt: Wie könnte ich meine Hände seltener waschen, Lieber so: Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn da noch ein paar Baktierien auf meinen Händen sind?
  8. Bleiben Sie nicht allein! Nicht einigeln, das liebt der Zwang.
  9. Reden Sie mit anderen Zwangskranken/über Ihre Zwangsgedanken …
  10. Es ist nur ein Kobold in Ihrem Kopf, der Ihnen das alles nur einflüstert. Es sind seine Gedanken, nicht Ihre! „Es ist zwar ärgerlich, dass ich sein Vermieter bin und ihn, trotz dringenden Eigenbedarfs, nicht aus seiner Wohnung da oben schmeißen kann – auch wenn der kleine Troll noch nie seine Miete bezahlt hat. Aber mir auch noch anhören, was er den ganzen Tag da oben vor sich hin plappert, das muss nun wirklich nicht sein.“
  11. Der 11. hack kommt von mir: Suchen sie einen Therapeuten/eine Therapeutin auf, wenn sie merken, dass Sie Handlungen vollbringen MÜSSEN, die Ihnen Ihren Alltag erschweren oder sogar boykottieren. Zwänge sind wahre Zeiträuber und machen den normalen Alltag sehr anstrengend. Zwänge chronifizieren eher. Von selber werden sie nicht weniger. Ein früher Behandlungsstart ist wesentlich. Zwänge treten oft schon bei jungen Menschen während der Pubertät auf. Oft braucht es auch psychiatrische Hilfe, ambulant oder stationär und Medikamente.

Ein Bild, dass ich als sehr nützlich empfinde, behandelt die Folgen, die entstehen, gibt man einem seiner kleinen Zwänge nach. (Mitzählen!): „Stellen Sie sich vor, Sie haben fünf dreijährige Kleinkinder und einen offenen Eimer blauer Wandfarbe in einem Zimmer. Sie erlauben einem der Kinder ausnahmsweise, vorsichtig ein wenig mit der Farbe zu spielen, verbieten es aber den anderen vier. Dann verlassen Sie das Zimmer und kehren nach einer Stunde zurück. – Ungefähr so, wie der Raum dann aussieht, sieht es in mir aus, wenn ich bei einem Zwang nachlässig werde. Die anderen Zwänge bemerken meine Schwäche sofort und nutzen sie aus. Die Dinge gerate außer Kontrolle. Die Zwänge werden mehr und mehr (S. 282).“

Sie wissen was zu tun ist: Just don’t do it.

Empfehlenswerte Bücher:

  • Zwanghaft – Wenn obsessive Gedanken unseren Alltag bestimmen – David Adam – dtv 2016 (gut recherchiertes Buch eines Betroffenen)
  • Der Kobold im Kopf: Die Zähmung der Zwangsgedanken – Lee Bear – Hogrefe 2010 (Ein amerkikanischer Psychologe berichtet von seiner Arbeit mit Zwangskranken.)
  • Wenn Zwänge das Leben einengen: Der Klassiker für Betroffene – Zwangsgedanken und Zwangshandlungen – Nicolas Hoffmann, Birgit Hoffmann, Springer 2017 (guter Überblick und Anleitung zur Selbsthilfe)
  • Ich tick nicht richtig: Mein Leben mit Zwängen, Ängsten und Macken – Geschichten aus meinem Neurosengarten – Hanka Rackwitz, Petra Cnyrim – mvg 2016 (humorvoller Bericht zum Thema)