Aufruf zum Leben von Anselm Grün.
Der Benediktinerpater Anselm Grün füllt an einem verregneten
Samstagabend den Rieder Stadtsaal spielend. Es ist schön seinem luftigen
Vortrag zu folgen, den der 75ig-Jährige manuskriptfrei und unbeschwert hält.
Der Inhalt ist auch für konfessionslose Menschen sehr brauchbar. Pater Grün
spricht von verschiedenen Gründen, warum Menschen ihr Leben nicht wirklich
leben.
Manche Menschen bleiben Zuschauer ihres Lebens und versäumen
es, selbst zum Mitspieler zu werden. Mit der Haltung „Ich
passe!“ – wie im Kartenspiel, lassen sie ihr Leben an sich vorbeiziehen und
verpassen es dabei. Mitspielen heißt das Leben wagen, Misserfolge zu riskieren,
auch gelegentlich zu scheitern, dafür aber lebendig zu bleiben. Auch in der
Psychotherapie treffe ich auf Menschen, die Zuschauer sein möchten. Fachlich spricht
man von unterschiedlichen Klientenmotivationen (nach dem amerikanischen
Therapeuten Steve de Shazer). So gibt es den Typen des Besuchers oder des
Klägers. Beide erreichen wenig persönliche Bereicherung durch eine Therapie.
Der Besuchertyp ist der Beobachter des Lebens, den Grün beschreibt. Um etwas zu
verändern, müssen wir Akteure unseres Lebens werden.
Um zu leben braucht es Sinn, wie der jüdische
Psychiater und Psychotherapeut Viktor Frankl postulierte. Sinn entsteht durch schöpferische
Werte, wie z. B. etwas selbst zu gestalten, kreativ zu sein, handwerklich
beispielsweise zu töpfern, zu häkeln usw. Sinn kann auch durch Erlebnisse,
z. B. ein Frühstück mit Freundinnen oder eine schöne Wanderung und durch Einstellungswerte
entstehen. Letzteres meint die eigene Reaktion auf Ereignisse. Meine
Einstellung bedingt, wie ich mit einem Misserfolg oder einem Schicksalsschlag
umgehe. Ich wähle zwischen Bitterkeit oder Hingabe, Opferhaltung oder
Lösungstäterschaft.
Spiritualität und Glaube kann eine Lebenshilfe sein, soll
aber nicht der Lebensflucht dienen, wie Pater Anselm Grün meint.
Aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung in der Begleitung von
Menschen in allen Lebenslagen weiß er, dass v. a. in der Lebensmitte bei vielen
Menschen das Gefühl auftaucht: „Ich habe etwas versäumt“, „Ich habe nicht
wirklich gelebt“, oder „Ich habe die Liebe versäumt“. Er meint, hier ist Verwandlung, nicht Veränderung
gefragt. Ich finde die Differenzierung dieser Begriffe interessant. Grün meint,
bei der Veränderung müsste der Mensch ein anderer werden. Bei der Verwandlung
hingegen, geht es um die Anerkennung des „So-Seins“ wie beispielsweise die
Liebe versäumt zu haben und anschließend darum, mehr der oder die zu werden,
die wir sind. Er zitiert C. G. Jung, der sagte: „Alles Lebendige muss sich
wandeln.“
Der Alterungsprozess oder das nahende Lebensende kann ebenso
eine gute Gelegenheit sein, sich mit dem Versäumten und dem Ungelebten
auszusöhnen und das verbleibende, jetzige Leben bewusst zu leben. Grün
empfiehlt eine Haltung des Hinnehmens. Als Christ glaubt er, dass Gott im
Nachhinein das Geschehene in Segen verwandeln kann. In der Rückschau ist ein
„Sein-Lassen“ hilfreicher als eine Bewertung, sagt er. Besonders gefällt mir
Folgendes: Ein Teil dieser Haltung sollte auch getragen sein von Dankbarkeit.
Hier zitiere ich einen weiteren wichtigen christlichen Wegbereiter unserer Zeit,
Pater David Steindl-Rast: „Nicht das Glück ist die Quelle der Lebensfreude,
sondern die Haltung der tiefen Dankbarkeit.“
Ich verlasse den Vortrag beseelt und erlebe in mir eine Verschmelzung, fast eine Harmonie zwischen christlichem Denken, buddhistischer Haltung und psychotherapeutischem Wissen.